Zumindest ist allen klargeworden, dass in der staatlichen Verwaltung, im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen und in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die Herausforderungen der Krise hätten besser gemeistert werden können, wenn der Einsatz und die Nutzung digitaler Technologien in Deutschland auf dem Stand wären wie in vielen anderen Ländern dieser Welt. So kamen die Interaktionsmöglichkeiten mit Ämtern und Behörden während des Lock-Downs flächendeckend zum Erliegen, Personalausweise, Pässe, Führerscheine etc. konnten nicht beantragt und abgeholt werden, weil die gängigen Workflows immer noch persönliches Erscheinen erfordern; auch dort, wo das unter Nutzung digitaler Technologien lange nicht mehr erforderlich wäre.

Ein lehrreiches Beispiel für die verschlafene Digitalisierung bietet der Schulbereich mit seinen kompliziert über alle staatliche Ebenen verteilten Verantwortlichkeiten. In den Sonntagsreden wurden schon seit 15 Jahren die Vorteile von digitalen Technologien und Bildungsangeboten in den Schulen gepriesen, unzählige Pilotprojekte – aus verschiedenen Quellen finanziert – wurden wenig nachhaltig durchgeführt, mit einem Finanzvolumen von 5,5 Milliarden wurde der DigitalPakt Schule von der Bundesregierung ausgelobt, und trotzdem waren die Schulen nicht vorbereitet, während der Corona-bedingten Schulschließungen einfach auf digitale Unterrichtformen umzuschalten.

Unkoordiniert und in jedem Unterrichtsfach andere Programmsysteme wurden installiert und ihr Einsatz unter den Bedingungen des Ernstfalls erprobt, bei entsprechendem Einsatz auf Seite der Eltern und der Lehrer manchmal sogar mit bemerkenswertem Erfolg. Aber flächendeckend fehlte die Voraussetzungen für einen Einsatz digitaler Technologien und Systeme im Unterricht – Breitband-Internetanbindung, WLAN in den Klassenräumen, adäquate Geräteausstattung der Schüler und Zugriff auf geeigneter digitale Lernmedien und -systeme –, die einen niederschwelligen und datenschutz¬konformen Einsatz digitaler Lernmedien und Lernsoftware im Unterricht ermöglichen.

Aber selbst wenn diese infrastrukturellen Voraussetzungen gegeben gewesen wären, fehlte bisher die Vision und ein größerer Plan, die digitale Transformation in deutschen Schule voranzubringen, deren pädagogischen Potentiale zu erschließen und die junge Generation gut auf ein Leben in einer Gesellschaft vorzubereiten, die in all ihren Bereichen zunehmend von den Entwicklungen in der digitalen Welt geprägt ist. Im Mittelpunkt der Überlegungen und Diskussionen dazu stehen die Fragen nach der digitalen Souveränität, zum einen als Bildungsziel für unsere Kinder und zum anderen als Selbstverständnis unseres Gemeinwesens.

Digitale Souveränität als Bildungsziel

Schüler und Schülerinnen sind in eine Welt geboren worden, in der die Digitalisierung alle Bereiche des Lebens erfasst hat und diese verändert. Das berufliche, private und gesellschaftliche Leben ist ohne gute Kenntnisse und Fertigkeiten im Bereich der digitalen Technologien und Plattformen nicht mehr zu meistern. Unser Menschenbild ist geprägt von dem Ideal des freien Bürgers, der selbstbestimmt, eigenverantwortlich und souverän sein Leben meistert. In der heutigen Zeit schließt das auch sein Leben und Handeln in der digitalen Welt ein. Aber wird das in der Schule reflektiert? Ist Lehrern und Lehrerinnen bewusst, dass sie in ihrer Bildungsarbeit auch verantwortlich sind, ihre Schüler auf ihren Umgang und ihr Handeln in der digitalen Welt vorzubereiten?

Über viele Jahre wurde alleine darüber gestritten, wer für die Digitalisierung in den Schulen verantwortlich ist, der Schulträger oder das Land, ob jedes Bundesland eine eigene digitale Lernumgebung braucht, oder ob eine einheitliche digitale Cloud-Infrastruktur aufgebaut und dann für jedes Bundesland angepasst wird. So waren die Schulen nicht vorbereitet oder in der Lage, auf die mit dem Lock-Down verbundenen Schulschließungen angemessen zu reagieren.

In diesen Ausstattungsdiskussionen ganz außen vor ist die Frage, wie Schüler und Schülerinnen denn befähigt werden, den Anforderungen einer durch die digitale Transformation vollkommen veränderten Lebens- und Arbeitswelt gerecht zu werden und sich in der neuen digitalen Welt souverän zu bewegen. Niemandem nützt schnelles Internet und das Recht auf die Verfügungsgewalt über eigene Daten, wenn er/sie nicht mit der Digitalisierung selbst umgehen kann. Es ist noch keine digitale Kompetenz, schnell etwas auf Facebook zu posten oder bei TikTok hochzuladen.

Die Digitalisierung hat eine Welt mit eigenen Gesetzen erschaffen, die anders sind als die der bisherigen Welt. Daten wohnt ein erheblicher Wert inne, Wachstumsprozesse verlaufen für Menschen nur schwer zu erfassen exponentiell, im Internet spielt Zeit keine Rolle, alles geht sofort. Das millionenfache Teilen einer Bilddatei im Netz ist einfacher als einen Ausdruck in der analogen Welt zu erstellen.

Um sich erfolgreich in der digitalen Welt zu bewegen, braucht es digitale Kompetenzen. Die digitale Welt im geschützten Raum der Schule zu entdecken war aus den schon diskutierten Gründen bisher nicht möglich. Erst mit dem jetzigen Schub der Digitalisierung, ausgelöst durch die Corona-Krise, kommt Bewegung in die Szene. Auf breiter Front haben Lehrer und Lehrerinnen entdeckt, digitale Lernprogramme und -systeme in ihrem Unterricht zu nutzen.

In der Krisensituation oft noch in einem datenschutzrechtlich unzulässigen Setting wächst das Verständnis, dass die Nutzung einzelner Lernprogramme im Unterricht nur sinnvoll aus einer geschützten digitalen Lern- und Arbeitsumgebung wie der HPI Schul-Cloud erfolgen kann, um die Vorteile digitaler Lernsysteme nutzen und den Abfluss der dabei anfallenden personenbezogenen Daten verhindern zu können.

Digitale Souveränität unseres Gemeinwesens

Die Forderung nach digitaler Kompetenz und Souveränität bezieht sich aber auch auf die verschiedenen Ebenen staatlichen Handelns. Selbstbestimmtes Handeln und wirtschaftlich unabhängige Entscheidungen setzen digitale Kompetenz voraus. Dazu gehört die Kenntnis der gesetzlichen Rahmenbedingungen, z.B. in Bezug auf den Datenschutz, ein Verständnis über die Konsequenzen des Einsatzes Cloud-basierter Produkte ausländischer Anbieter – sowohl im Hinblick auf die Verarbeitung als auch die Datenspeicherung – und das sogenannte Vendor Lock-in, also die dauerhafte Abhängigkeit vom Hersteller bei der Entscheidung für seine Systeme.

Um Letzteres zu vermeiden macht es im öffentlichen Bereich Sinn, wo immer möglich sogenannte Open-Source Software, also Quellcode-offene Software einzusetzen. Damit kann man sicherstellen, dass die Systeme keine unerwünschten Nebenwirkungen haben – der Quellcode kann von jedem gecheckt werden –, Investitionen und Anpassungsentwicklungen nachhaltig gesichert bleiben, und die Systeme mit ihren dahinter liegenden komplexen Datenstrukturen nicht ausgetauscht werden müssen, wenn man mit dem Betreiber unzufrieden ist. Dieser kann einfach durch Neuausschreibung ausgetauscht werden, ohne dass die Nutzer sich an die Oberflächen eines neuen Systems gewöhnen und seine Bedienung neu erlernen müssen.

Digitale Souveränität beginnt tatsächlich in der Schule, wo Schüler digitale Kompetenzen erwerben, beispielsweise gemeinsam an Projekten und in sozialen Netzwerken arbeiten, wie später im Beruf verlangt. Gemeinsam auf maßgeschneiderten Plattformen entdecken und erfahren, wie die neue digitale Welt funktioniert, wo digitales Arbeiten Vorteile gegenüber analogem Arbeiten bringt und begreifen, welchen Wert Daten haben und warum jeder Einzelne und das Gemeinwesen digital souverän die Kontrolle darüber behalten muss.

Hinweise der Redaktion

Dieser Beitrag erschien zuerst bei The European. Titelbild: © anne-steffen.de